Die Insel der Piraten

 Es war einmal und es war auch nicht, vor langer Zeit auf den Meeren dieser Welt, wo sich erfahrene Seemänner durch stille und wütende Ozeane quälten, und sich dem Gesang des Wassers unterwarfen. Denn nur der Wind spielte hier seine rauhe Melodie. Stolze Söhne verschiedener Länder, die durch Wind und Wellen, durch Kälte aber auch durch die sengende Hitze segelten, bis sie endlich eine Insel fanden, in der sie ihren quälenden Durst und Hunger stillen konnten. Oft befuhren sie auf ihren Seglern tagelang die endlose Weite des Meeres, doch als Überlebenskünstler trotzten sie der Hitze am Tage, und der Kälte der Nacht. Der alte Yasir, ein Araber, war Captain eines Handelsschiffes und führte seine Besatzung mit strenger aber gerechter Hand, so wie es sein Vater viele Jahre vor ihm tat. Der Araber, ein erfahrener Seemann, liebte das Meer, die Wasserberge, die teilweise mehr als 20 Meter Höhe erreichten, die Fische, die sich bestens an die Bedingungen der Ozeane angepasst hatten, vor allem die Delphine, die geduldig und mit enormer Ausdauer bis zu einer Woche den Segler begleiteten. Dabei legten sie täglich über 100 Seemeilen zurück, wenn es dem Captain nötig erschien. Regen war keine Seltenheit, viele Liter Wasser fielen im Jahr, und dennoch war es eines der kostbarsten Güter. Nun ereignete sich eines Tages in den ersten Stunden des frühen Morgens, dass der Wind über dem Meer an Heftigkeit zunahm. Bis zum Mittag erreichte er bereits Sturmböen und das Schiff schaukelte heftig in der tosenden See. Wie lange sie dem Sturm standhalten konnten, lag an dem Geschick der Seeleute und an der Gewalt des Meeres. Der Captain des Handelsschiffes wusste, dass das Gebälk zu bersten drohte, und bevor die Masten einknickten hoffte Yasir bald auf Festland zu treffen, sonst würde der Segler manövrierunfähig. Wenn das Schiff nicht in den Fluten versank, müssten sie mit ihrem treibenden Wrack auf See ausharren, bis ihnen ein Segler begegnete, der ihnen Hilfe anbot.  Wie von Zauberhand tauchte plötzlich in weiter Ferne eine rettende Insel aus den riesigen Wellen auf. Mit seinem Fernglas, das Yasir stets bei sich trug, erspähte er das Eiland, das noch in einiger Entfernung lag. Yasir gab den Befehl, die Insel anzusteuern, denn dort wollte er vor Anker gehen, da der Sturm damit drohte, das Schiff zu zerstören, auch die Sicht wurde zunehmend schlechter. Yasir befehligte seinem Sohn Nihat sich um die Mannschaft zu kümmern, Order zu erteilen, so wie er es ihm seit langem gelehrt hatte. Besorgt begutachtete der Araber von seinem Schiff aus die schützende Insel, und suchte in der kleinen Bucht einen sicheren Platz um den Anker zu werfen. Unversehrt und wohlbehalten trat Yasir eine Stunde später aus dem Kreis der Mannschaft, als der Wind sich etwas legte. Nihat erwartete seinen Vater bereits und freute sich sehr, dass der alte Mann ohne Schaden genommen zu haben, dem Sturm die Stirn bieten konnte. Die Insel, die ihr Ziel war, lag nur noch ein paar Seemeilen entfernt, jedoch bis zum Sonnenuntergang würden die Seeleute diese erreichen, wenn sie weiterhin zügig vorankamen. So bewegte sich der Segler, Kurs haltend auf das Eiland, und die Männer folgten vertrauensvoll den Anweisungen des weisen Yasir, der neben Captain auch Vertrauter seine Besatzung war. Nach vielen Seemeilen durch die rauhe Wasserwüste erreichten Yasir und sein Gefolge die Insel, die sie so bitter nötig hatten. Auch der Wind blies nicht mehr so heftig, so dass sie unbeschadet in der Bucht vor Anker gehen konnten. Beiboote wurden zu Wasser gelassen, in denen die Männer erleichtert auf das Festland zuruderten. Die Sonne hing schon sehr tief über dem Meer und bald würde die Dunkelheit der Nacht Sieger über den Tag sein. Auf der kleinen Insel wollten sie am nächsten Tag ihre Fässer mit frischem Wasser füllen, Früchte einsammeln und Fische fangen, hier gab es genug für jeden, so dass nach einem guten Mahl und schwarzem Tee, alle zufrieden und gestärkt wieder in See stechen konnten. Ein Fässchen Rum wollten sich die Männer gönnen, bevor die Müdigkeit ihnen die Freude nahm, auf den Sieg über den Sturm anzustoßen. Nachdem die Seeleute einen geeigneten Platz am Strand ausmachten, bereiteten sie das Nachtlager, kauerten zusammen, diskutierten, lachten, einige atmeten den süßen Rauch ihrer Tabakpfeifen und gaben sich genüsslich dem aromatischem Rum hin, der nie an Bord fehlte. Nihat aber schaute nur regungslos zu, wie sich seine Männer am Lagerfeuer sitzend betranken, denn am nächsten Morgen sollte er die Aufgabe des Captain übernehmen. Yasir fühlte sich nicht mehr stark genug, seine Hand schützend über die Häupter seiner Besatzung zu halten, auch dem Glauben unterworfen verzichteten die beiden Araber auf das alkoholische Getränk. Das gemütliche Fest neigte sich bald dem Ende, zu erschöpft waren die Männer von den Anstrengungen der vergangenen Tage, als dass sie bis in den Morgen scherzten und sangen. Müde und glücklich über die friedvolle Atmosphäre auf der Insel, schlief Yasir und seine Besatzung ein. Dieses Geschehen wurde beobachtet, Piraten lauerten in den Dünen der Insel, um nach Opfern Ausschau zu halten. Mit eiskalter Brutalität überfielen sie die vor Anker liegenden Schiffe, plünderten, töteten Mensch und Vieh und verschonten keine Seele. Im Schutze der Dunkelheit schlichen sich die Piraten an die Männer heran. Ihre Säbel und Messer glänzten im hellen Schein des Mondes, der groß und rund am Himmel stand. Die vielen Sterne wurden zu stummen Zeugen dieses Überfalls. Nachdem das Lager ausreichend inspiziert wurde, man sicher war, dass niemand etwas bemerkte, umzingelten viele bewaffnete Männer die schlafenden Seeleute, um sie mit einem Überraschungsangriff zu bezwingen. Das Oberhaupt der Freibeuter erhob seinen Säbel und rief: „ Ergreift sie und nehmt, was zu nehmen sich lohnt!“ Mit unfassbarer Blutgier stürmten seine Männer den Lagerplatz, metzelten, plünderten, zerstörten und freuten sich über die Macht, die sie in diesem Moment besaßen. Yasir schreckte auf, das Geschrei ließ ihn erschaudern, doch bevor er begriff was passierte, und wie er zu handeln hatte, stand der Anführer mit erhobenem Säbel vor ihm und schlug mit roher Gewalt auf ihn ein. Leblos fiel der Alte Mann in den Sand, sein Blut färbte den Boden dunkelrot und vermischte sich mit dem Blut seiner sich tapfer wehrenden Männer, die dem Angriff nicht standhielten. Es waren zu viele schwer bewaffnete Gegner, die sie überrumpelten. Das Wimmern der Verletzten, die im Todeskampf versuchten in einen schützenden Unterschlupf zu kriechen, wurde übertönt von dem Siegesgebrüll des Oberhauptes der Piraten und seinen Anhängern. Als das Schweigen des Todes die Insel eingeholt hatte, versicherte sich der Anführer, dass niemand den Angriff überlebte. Dann orderte er an, alle Waffen, Münzen und den Schmuck zu nehmen und sich, bevor der Morgen anbrach, aus dem zerstörten Lager zurückzuziehen. So wie sie gekommen, verschwanden die Piraten über die Dünen der Insel.  Die Beute, die sie ergatterten war mager, denn das Hab und Gut der Seeleute lag in ihren Kajüten an Bord und die Handelsgüter waren im Frachtraum unter Deck verstaut. Unbeeindruckt und sich im Siegesrausch labend verhallte ihr Gelächter im Wind. Nihat lag schwer verletzt zwischen all den toten Männern, blutüberströmt schleppte er sich ins Freie, warf sich in den Sand, weinte und stieß ein flehendes Gebet gen Himmel, dann fragte er hoffnungslos: „Wohin wird Allah mich bringen?“„In Sicherheit“, flüsterte eine Frauenstimme. Nihat war unter Schmerzen bemüht sich zu erheben, um sich der Stimme zuzuwenden, als er eine Frau erblickte. „Was ist hier geschehen?“ fragte er unter Tränen. Nihat ließ den Kopf fallen, zu kraftlos war er, um ihr in die Augen zu schauen. Die Frau antwortete leise: „Die Hölle hat sich aufgetan.“ Dann fiel der junge Araber in den Sand und blieb ohnmächtig liegen. Als Nihat zu sich kam, lag er auf weichen Untergrund, geschützt vor der Sonne, gewaschen und seine Wunden waren verbunden, unter einer Palme, eines der Wahrzeichen der kleinen Insel. Frisches Wasser stand in einem Krug neben ihm, um seinen Durst damit löschen zu können. Er blinzelte in das helle Sonnenlicht, suchte eine Erklärung für seinen Zustand, doch dann fiel ihm der Überfall wieder ein, und er sank zurück, um seinen geschundenen Körper zu schonen.  Die unbekannte Frau trat zu ihm hin, kniete nieder und seufzte: „Mein Herr, sie haben lange geschlafen, ich habe unterdessen ihre Wunden versorgt, doch vermag ich nicht alleine, all die Toten zu begraben.“ „Wer bist du“, fragte Nihat misstrauisch, noch vertraute er der schönen Frau, mit den smaragdgrünen Augen und dem langen brandroten Haar nicht. Mitleidsvoll blickte sie den verwundeten Araber an, dann antwortete die junge Frau traurig: „Ich bin die Tochter des Piratenoberhauptes und es ist eine Schande für mich, ihn Vater nennen zu müssen. All die Überfälle, das Leid und das ewige Blutvergießen geschieht nicht in meinem Sinne. Doch vermag ich nicht alleine von dieser Insel zu fliehen.“ Nihat zwang sich, trotz heftiger Schmerzen, der Piratentochter beizustehen. „Es wird ein harter Tag werden, aber wir müssen die Toten beerdigen“, seine Stimme klang rauh und schmerzverzerrt.Es sind zu viele, mein Herr, wie sollen wir dieses bewerkstelligen? Es bleibt zu wenig Zeit und mein Vater wird mich vermissen. Dann wird er Männer schicken, die mich suchen und finden, auch werden sie dein Schiff belagern, um damit auf See vorbeifahrende Schiffe zu entern.“Dann lass uns fliehen, der Segler liegt noch vor Anker in der Bucht, und die See ist ruhig.“ Schweren Herzens entschloss sich Nihat, das Lager nieder zu brennen, doch es war die einzige Möglichkeit die ihnen blieb die Toten zu entsorgen. Dankbar für die Hand, die ihm gereicht wurde, nahm Nihat die Hilfe der Piratentochter an. Als das Feuer sich durch den Lagerplatz fraß, hockten beide unter einer der wenigen Palmen. Er beweinte seinen Vater, seine Männer und den Verlust, den er erlitten hatte. Nachdem das Feuer nur noch Schutt und Asche hinterließ, traf er einen Entschluss. Trotz aller blutigen Vorstellungen, entschied sich Nihat die Insel schnellstens zu verlassen, und die junge Frau folgte seinem Entscheid und blieb an seiner Seite. Ihr war die Insel bestens bekannt und so führte sie den Araber in ein sicheres Versteck, bis beide ohne in einen Hinterhalt zu geraten, fliehen konnten. Das Feuer erregte keine Aufmerksamkeit bei den Freibeutern, da sie wussten, dass sich die Tochter ihres Anführers oft alleine in der Nähe des Strandes aufhielt, sich dem Befehl ihres Vater beugte, um die Spuren eines Angriffs zu beseitigen. In der Nacht flüchteten sie von der kleinen Pirateninsel, ruderten mit einem der Beiboote, die am Strand lagen, zurück zu dem Segler, und hofften nicht erwischt zu werden. Als beide unversehrt das Schiff erreichten, kletterten sie schleunigst an Bord, lichteten unverrichteter Dinge den Anker, setzen mit letzter Kraft die Segel und ließen sich mit dem Nachtwind weit hinaus auf das Meer treiben, sichtlich erleichtert und glücklich, unbeschadet die Freiheit erlangt zu haben. Nihat segelte in Begleitung der schönen Piratentochter und sich in Sicherheit wiegend, zurück in seine arabische Heimat. Eines Tages wollte er die Insel erneut aufsuchen, um seinem geliebten Vater zu ehren. Viele Jahre dauerte es, bis das Paar diese kleine Insel zu dem machte, was sie jetzt war, eine blühende Landschaft mitten im Meer, mit unzähligen Palmen. Sie kehrten zurück, als man die Piraten von der Insel vertrieb und einer gerechten Strafe unterzog. Ob im Kampf gefallen, für ihre unzähligen Missetaten gehängt oder eingekerkert, die Gerechtigkeit eroberte die Insel zurück. Das versickerte Blut der vielen Opfer speiste die Quelle der Insel, die nie versiegte. Für all die getöteten Männer pflanzten Nihat und seine Frau eine Palme zum Gedenken, und als die Piratentochter ihr erstes Kind gebar, pflanzte Nihat eine weitere Palme, als sichtbares Zeichen des Lebens. Seefahrer, die im Begriff waren die hohen Wellen der Meere zu bezwingen, schauten gerührt aus der Ferne auf die kleine Insel. Und wer die Gastfreundlichkeit von Nihat, seiner Frau und ihren Kindern spüren möchte, der geht vor dieser Insel vor Anker. Auch singt der Wind ein zärtliches Lied, das ganz leise zwischen den Blättern der Palmen erklingt. Und hörst du genau hin, dann flüstert dir jede Palme, als Antwort auf deinen Gruß, ein "Aye Aye Captain“ in dein Ohr. Nur der Schatz der Piraten, der wurde nicht gefunden.